HIPPOLYTHAUS ST. PÖLTEN, 5. Oktober 2023

Geschlecht versus Gender
Nachdenken über eine neue Leibfreundlichkeit

Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz fasst zusammen

Die gender-Debatte löst die noch vom Feminismus unbestrittene Geschlechterdifferenz radikal auf. Geschlecht sei nur eine Konstruktion. Judith Butler hat mit ihrem Buch „Gender Trouble“ 1990 eine Lawine losgetreten: Sex, das biologische Geschlecht, sei nicht entscheidend, sondern gender, das gewünschte, gefühlte, gewählte, konstruierte Geschlecht sei entscheidend. Ist es sinnvoll, zwischen Mann und Frau zu unterscheiden? Ist es wichtiger, das gemeinsam Menschliche zu betonen? Kann man sich durch „fließende Identität“ nach eigener Wahl in „Freiheit“ setzen?
Vor dieser Herausforderung müssen wir Leib, Sinnlichkeit, Seele und Geist in ihrer gegenseitigen Verflechtung neu denken. Was sagt uns der Leib? Nicht nur naturwissenschaftlich, sondern vor allem als meine ursprüngliche Lebendigkeit, mein Ichsein, meine Beziehung auf einen anderen Leib? „Bio-„ ist ein Werbeträger geworden für gesunde Produkte; gilt es nicht auch für den Menschen?
Die Denk-Wege Benedikt XVI. sind nach wie vor hilfreich, um im Ansturm solcher Fragen Erprobtes und Neues sinnvoll zu vereinen. Ohne dass der Papst unmittelbar auf Gender eingeht, heißt es in der Berliner Rede 2010: „Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur.“

Abweichungen von der Norm

In jeder Bevölkerung gibt es einen Prozentsatz, der sich geschlechtlich anders einordnet. Drei Varianten werden genannt:
Transgender (biologisch eindeutig männlich oder weiblich, fühlen sich „im falschen Körper“), ohne operativen Eingriff, gleichen sich durch Kleidung etc. dem anderen Geschlecht an;
Transsexuelle (fühlen sich ebenfalls im „falschen Körper“ und veranlassen eine Geschlechtsumwandlung: operativ, hormonell (auf Lebenszeit, in der Regel mit Infertilität verbunden); De-Transitionen nehmen mittlerweile zu, ebenso Klagen wegen mangelnder Aufklärung (siehe Londoner Tavistock-Klinik);
Intersexe (Geschlecht ist anatomisch, hormonell, genetisch eindeutig, aber im Phänotyp nicht voll ausgebildet): 0,01% der Bevölkerung; hier kann in der Regel medizinisch geholfen werden.
Die Zahlen, soweit erhärtet, liegen bisher im unteren einstelligen Drittel und drängen keineswegs auf eine völlige Umstellung geschlechtlicher Kategorien. Von 60 und mehr Geschlechtern zu sprechen, wie im Internet zu lesen, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Die genannten Abweichungen realisieren ihre Sexualität in einer der beiden Geschlechtsformen.

Zum Glück verschieden

Das deutsche Wort Leib verweist schon mit seiner Wurzel lb- auf „Leben“ und „Liebe“. „Körper“ dagegen wird werkzeuglich verstanden, ist willentlich zu gebrauchen oder außer Kraft zu setzen. Körper ist Habe, Leib ist Gabe. Leib bin ich selbst = beseelter, lebendiger Leib; Leib ist mein Dasein für mich und für andere. Deswegen ist Leib nicht materialistisch zu verstehen.
Männlicher und weiblicher Leib sind asymmetrisch in der Erotik: Eindringen und Annehmen: sind anders in der Generativität: fähig zum Zeugen, zum Empfangen/Gebären/Stillen. Sie sind nicht stummer, willenloser Körper. „Körper“ sind auch leblose Dinge, die man mechanisch als Werkzeug benutzen kann, der Leib ist nicht mechanisch. „Ich habe einen Körper, aber ich bin mein Leib“ (Helmuth Plessner). Nur der wirkliche Leib schließt das Abenteuer der Liebe zum anderen Geschlecht und das Abenteuer von Kindern ein. Und Kinder brauchen Mutter und Vater in je anderen Entwicklungsphasen.
Genetik, Anatomie, Hormonologie und Psychologie sind Wissenschaften, die diese Zweiheit genau belegen. Die Frau ist weder Männin noch Menschin, den Mann ohne Eigenschaften gibt es nicht. Die Natur arbeitet grundsätzlich mit dem Schloss-Schlüssel-Prinzip: der gegenseitigen Ergänzung zweier genau abgestimmter Geschlechter.

Die Sprache des Leibes: mehr als Körper

Das deutsche Wort Leib verbindet in seiner Wortwurzel lb- „Leben“ und „Liebe“.
Das Geheimnisvolle, dass nur Frau und Mann „ein Fleisch“ werden und dabei neues Leben im Fleisch hervorbringen, ist im Leib angelegt. Diese „Fleischwerdung“ miteinander zeigt bereits, dass in der gegenseitigen Hingabe kein beliebiges und austauschbares Spiel steckt, sondern dass im Geschlechtsakt eine einzigartige emotionale und geistige Welt aufklingt, die sich im Kind unmittelbar darstellt. So gehört zur Sprache des Leibes die Fruchtbarkeit. Sie auf Dauer oder aus egozentrischen Gründen zu unterdrücken, chemisch zu nivellieren oder umgekehrt technisch zu stimulieren, macht aus dem Leib den „Körper“, der als Werkzeug gesehen wird. Eros und Fruchtbarkeit lassen sich nicht auf Dauer trennen, denn der Eros selbst übersteigt sich in die Fruchtbarkeit, und die Fruchtbarkeit bindet wiederum zusammen. Der Mann wird nur an der Frau zum Vater, die Frau nur am Mann zur Mutter, das Kind nur an den Eltern zum Menschen.
Mit der „Theologie des Leibes (ThL)“ von Papst Johannes Paul II. wird die biblische Deutung des Ursprungs der Liebe aufgedeckt. Sie liegt in Entdeckung, Bezauberung, Staunen und Faszination des Mannes (ThL 108,4-6) durch die Frau, die schon im Ruf Adams anklingen: „Diese ist endlich Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“ (Gen 2,23). Der Mann sieht sie nicht nur als Objekt der erotischen Faszination und Begierde. Seine Worte „umfangen ihr ganzes Ich mit einer selbstlosen Zärtlichkeit“ (ThL 110,2). Der Mann anerkennt die Frau „als Herrin ihres eigenen Geheimnisses“ (ThL 110,7). Auf Grund dieser Anerkennung kann sie ihre Freiheit als Herrin in Worte der endgültigen Hingabe fassen.

Fleischwerdung mit Hilfe des Göttlichen

Nie wird nur primitive Natur durch das Christentum verherrlicht: Sie ist vielmehr in den Raum des Göttlichen zu heben. Als ursprünglich paradiesische Gaben (Gen 1,27f) bedürfen Eros und Fruchtbarkeit „nach dem Fall“ ausdrücklich des Sakraments: Wegen ihrer Gefährdung werden sie in den Bereich des Heiligen gestellt.
Die gleiche Würde des Geschaffenseins nimmt dem (bleibenden) Unterschied seine Schärfe, seine Macht der Zerstörung des anderen. Der Unterschied ist dann nicht mehr einengend, zwingt nicht zum ständigen Überholen und Niederwerfen des anderen. Im Gegenteil: Er bleibt gerade seiner fruchtbaren Asymmetrie wegen wichtig. Asymmetrie ist ein Gesetz des Lebendigen, und übrigens auch des Schönen. Alles, was lebendig ist, was der Entwicklung und reizvollen Antwort auf Neues fähig ist, besteht nicht aus symmetrischen Kräften, die einander genau die Waage halten. Es setzt sich vielmehr zusammen aus ungleichen Energien mit unterschiedlichem Antrieb und getrennten Aufgaben. Allerdings sind die Kräfte auf ein einheitliches Ziel hin zu sammeln, sonst brechen die Strebungen aus dem Lebendig-Ganzen aus. So sind die Geschlechter einander asymmetrisch zugeordnet – und das macht den Reiz der Beziehung aus. Zum Glück verschieden. Schöpferisches, erlaubtes Anderssein auf dem Boden gemeinsamer göttlicher Grundausstattung – das ist der Vorschlag an alle Einebnungen, Dekonstruktionen, Neutralisierungen.