HIPPOLYTHAUS ST. PÖLTEN, 26. April, 10. Mai, 24. Mai 2023

Vortragsreihe von Prof. Dr. Thomas Stark – Philosoph und Theologe

Glaube und Vernunft, zwei Seiten einer Medaille (1. Vortrag)
Warum es vernünftig ist zu glauben (2. Vortrag)
Der Glaube als Partner der Vernunft (3. Vortrag)

Zum 1. Vortrag vom 26. April

Glaube werde in der heutigen Gesellschaft zunehmend als irrational aufgefasst. Er widerspräche der Vernunft, so der Tenor. Christlicher Glaube sei jedoch immer schon an der Vernunft orientiert gewesen, so Stark, der als Beleg dazu ein Zitat von Anselm von Canterbury (1033 – 1109) brachte: „Wir wollen auch verstehen, was wir glauben.“

Leben wir aber heute nicht in einer rationalen Welt, im vernünftigsten aller Zeitalter?

Vernunft sei das Vermögen, das Angemessene vom Unangemessenen zu unterscheiden. Glaube setze Vernunft voraus; der Glaube müsse dem Menschen angemessen und vernünftig sein.

Die Spätantike, jene Zeit, in der sich das frühe Christentum entwickelte, weise durchaus Parallelen zur Gegenwart auf, so Stark. Damals habe es eine tiefgehende Spaltung zwischen der traditionellen Religion, dem griechischen und später auch römischen Polytheismus, und der Philosophie gegeben. Die traditionelle Religion habe die Philosophen nicht mehr überzeugt, sie sei als nicht vernunftgemäß durchschaut worden. Seit die alten Götter „tot“ waren, habe die Vernunft zunehmend den Glauben an sich selbst verloren.

Wenn Gott aber „tot“ sei, werde der Mensch zum Maß aller Dinge (vgl. Protagoras). Der Mensch sei jedoch ein höchst ambivalentes Wesen wie auch die Welt insgesamt – als Folge der Vorgangsweise der Menschen sei die Welt in eine Unheilsituation geraten.

Wenn also der Mensch das Maß aller Dinge ist, was ist dann das Maß des Menschen?

Das ließe sich rein empirisch nicht ableiten, so Stark weiter. Wie solle etwas als Unrecht benannt werden, was der Mensch tut, wenn man es in jedem Fall bloß als „menschlich“ einstuft? Und wie solle man einer Vernunft trauen können, die ein Produkt des menschlichen ambivalenten Geistes ist? Der spätantike Mensch habe sich in dieser Unheilsituation gefangen erfahren und darauf mit einer gesteigerten Heilserwartung reagiert.

Das Christentum habe dem eine Antwort entgegenzusetzen (gehabt). Es erlöse zwar nicht von der Welt, sondern verspreche eine Erlösung d e r Welt, habe eine kosmische Dimension, weil es die ganze Schöpfung miteinschließe (vgl. Röm 8,22 ff). Diese neue, von der Sünde befreite Schöpfung sei in Jesus Christus bereits angebrochen. Das Christentum habe sich als eine religiöse Weltsicht etablieren können, die – im Gegensatz zur antiken Religion – mit der Vernunft im Einklang stehe.

Im ausgehenden Mittelalter habe sich die europäische Geisteswelt jedoch wieder gewendet. Der Humanismus habe den Menschen in den Mittelpunkt des geistigen Interesses gestellt und begonnen, ihn aus den „Fesseln christlicher Tradition“ zu befreien.

Eine tiefe Verunsicherung im Laufe der Neuzeit sei die Folge gewesen. Seit der Neuzeit fühle sich der Mensch als Krone der Schöpfung verdrängt. Er sehe sich nicht mehr im Zentrum des Kosmos, nicht mehr von einem geordneten Sein getragen, sondern meine, selbst alles ordnen zu müssen. Das Sein wird zur Pflicht, das Leben zur Last. Der Philosophie sei nun die Aufgabe zugekommen, das entstehende Sinndefizit auf der Grundlage von Vernunft und Erfahrung zu kompensieren. Geordneter Vernunftgebrauch sei jedoch nur in der Ausrichtung auf das Wahre, Gute und Schöne möglich. Der Anspruch des Wahren und Guten sei aber absolut. Dem Absoluten begegne der Mensch in der Erfahrung des Heiligen. Spätestens seit Platon werde das Heilige mit dem Logos in Verbindung gebracht. Die Philosophie habe sich bemüht, die Gesamtdeutung der Wirklichkeit in der Ausrichtung am Logos vorzunehmen. Jedoch könne die Philosophie nur durch Orientierung am göttlichen Logos ihre Grenzen erkennen.

Stark verdeutlicht, wenn der von Christus verkündete Gott gütig und gerecht ist, dann sei anzunehmen, dass er den Menschen mit einer Vernunft ausgestattet hat, die die Erkenntnis der Wirklichkeit und der Wahrheit zulässt. Wenn ferner der christliche Glaube tatsächlich von Gott stamme, wie solle er dann anders als vernünftig sein? Und wenn die (griechische) Philosophie wirklich vernünftig sei, warum solle sie dann nicht auf den christlichen Glauben und damit auf die Selbstoffenbarung Gottes hinzielen?

Von Platon bis Kant habe die Prämisse gegolten, dass Philosophie letztlich in Theologie münden müsse. Theologie sei gleichsam der Schlussstein des Gebäudes rationaler Weltbewältigung, ohne den das Lehrgebäude zusammenbrechen müsse.

Das Schwinden des Glaubens in der heutigen Zeit befördere nicht nur den Unglauben, sondern auch den Aberglauben: „Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts, sondern vielmehr an alles“ (G. K. Chesterton). Es gäbe vermehrt eine Tendenz zu Irrationalismus auf der einen Seite und zum Hyperrationalismus auf der anderen Seite, bei der die Vernunft auf der Strecke zu bleiben drohe.

Stark erläutert: „Wenn die Kultur der Verehrung des Heiligen, bzw. die Verehrung des Heiligen als Fundament der Kultur schwindet oder versinkt, so schwindet auch die Motivation, nach dem Wahren und dem Guten zu streben und damit der Antrieb des Vernunftgebrauchs.“

Als Abbild Gottes sei der Mensch jedoch mit einer Vernunft ausgestattet, die es ihm ermögliche, Gott, seinen Schöpfer zu erkennen. Vernunft sei auch der Weg, in allem das rechte Maß einzuhalten.

Aber leben wir heute tatsächlich im „vernünftigsten aller Zeitalter“?

In unserer hochtechnologisierten Welt bestehe die Neigung, von einer Rückkehr ins „verlorene Paradies“ zu träumen, dies sei aber weder in der Vergangenheit noch in einer utopischen Zukunft zu finden. Es gäbe auch keine Rückkehr in die verlorene Kindheit, so Philosoph Stark abschließend. Das Christentum lade stattdessen aber zur Kindschaft ein, zur Möglichkeit, Kinder Gottes zu werden.